Aquarium in Deutschland, 6.-15. November 1999

Autoren: Andrej Sabelfeld und Chris Wachsmuth

 

Der sechste Tag (11.11.99), Berlin

Für diesen Tag war nichts weiter vorgesehen. Pawel und ich mussten die Abrechung mit dem Tränenpalast hinter uns bringen und die Musiker gingen ihrer eigenen Wege nach. Ded begab sich auf die Suche nach einem gebrauchten Saxofons, doch war damit nicht sehr erfolgreich. Ich ging mit Hajo und seiner Frau in Kreuzberg und im Prenzelberg spazieren. Hajo zeigte mir die Orte seiner "Kampferfolge" aus den Zeiten, als er noch ein linker Aktivist in Westberlin war und häufig zu Besuch nach Ostberlin kam. Am Nachmittag stimmte ich mich telefonisch mit Stas ab und einigte mich mit ihm darüber, dass wir uns um Sieben zum Abendessen treffen. Ich schlief bis um Sechs. Kurz darauf kamen Ded und Gerda bei uns vorbei. Gerda musste nach Hause zurück. So begleiteten Ded und ich sie zur U-Bahn und fuhren zum Hotel. Wieder einmal mit fünf Minuten Verspätung. Wie ich das hasse...

Wir wollten in der Nähe des Hotels Essen gehen, deshalb bat ich Boris, ein Restaurant auszuwählen - er kennt sich in dieser Gegend besser aus. Parallel dazu stimmte ich mich mit Galja, einer alten Berliner Bekannten Boris´, ab. Er wollte sich mit ihr treffen, und ich überlegte mir, dass es nicht schlecht wäre, eine "flat session" daraus zu organisieren. Ich weiß zwar nicht, ob Boris begeistert von dieser Idee war. Aber zumindest war er nicht dagegen, als ich ihn danach fragte. Es gab zwei Varianten: entweder bei Galja in der Wohnung in Charlottenburg oder in einem leeren Raum bei ihrem Sohn Max im Prenzelberg. Unmittelbar nach dem Konzert im Tränenpalast hatte auch Souleman, ein nicht nur in Berlin bekannter Perkussionist, für eine Jam session interessiert und sich mit Boris geeinigt. Galja zog die Variante bei ihrem Sohn vor. Sie fürchtete, dass der tempramentvolle Afrikaner sich nicht zurückhalten könne und so laut trommelte, dass die Nachbarn in Ohnmacht fallen würde...

Zu dieser Zeit fuhren wir die Kantstraße entlang, und Boris erinnerte sich, dass in der Nähe, am Savignyplatz, ein recht gutes italienisches Restaurant mit Namen "San MArino" ist. Nur mit Mühe fanden Pawel und ich einen Platz zum Parken. Wir bestellten deliziöse italienische trockene Rotweine und dazu passendes Essen. Stas fühlte sich ungemütlich - der Raum war recht klein, und er verträgt nur schlecht Zigarettenrauch. Boris fragte ihn: "Stas, bist du eigentlich glücklich mit deinem Leben? Ist es süß genug?" Stas antwortet, dass er im Prinzip zufrieden ist. Ded und ich beklagten uns ebenso wenig. Niemand konnte vorerst begreifen, worauf diese Befragung abzielte... Der nächste war Sur. "Es könnte noch süßer sein", - bemerkte er, worauf Boris ihm das Päckchen Zucker zuwirft, das von seinem Espresso übrig geblieben war. Wie einfach doch alles ist...

Es war bereits nach Acht. Wir hatten alle informiert, dass wir um Acht einträfen. Wie so oft musste der Zeitplanun operativ angepasst werden. Ein paar Anrufe über Handy und die Welt war wieder in Ordnung. Es lebe die moderne Telekommunikation! Schnell tranken wir noch den vom Wirt spendierten Grappa und fuhren los. Wir holten Galja ab, die bereits vor ihrem Haus auf der Straße stand. Wie immer, wenn wir aon Westberlin nach Ostberlin fuhren, überquerten wir den Potsdamer Platz, den neuen Mittelpunkt der Stadt. Noch vor sechs Jahren war hier alles unbebaut!

Max´ Raum war ein noch nicht ausgebauter Laden, gleich neben dem Pfefferberg (in dem häufig russische Gruppen wie Aukzyon und Ne zhdali auftreten). Die einzige Einrichtung dieses Ladens bestand aus ca. 50 Farbbüchsen...

Die Leute flanierten dort wie in einer Galerie, mit dem kleinen Unterschied, dass es hier kein einziges Bild gab. Ich stellte mein Stativ mit der Videokamera auf. Doch Boris stieg hinab in den Keller. Er band sich ein Tuch um den Kopf (Kennt ihr dieses alte Foto, auf dem Boris mit Stirnband und Papirossi abgebildet ist?). Das Licht wurde ausgeschaltet und es ging los. Ich fragte Borja, ob ich filmen dürfte, aber da er nicht wollte, lies ich die Kamera oben stehen und lauschte dem Konzert.

"Halbdunkle" flat session, 11.11.99, Berlin Schönhauser Allee 185, bei Max Federowskij

Das Konzert fand im Keller eines leerstehenden Ladens statt, zuerst in völliger Dunkelheit, danach bei Kerzenschein ("verlogene Romantik"). Die ersten fünf Lieder wurden nicht aufgezeichnet, darunter "Mein Freund, der Doktor" und "Walzing's for dreamers" von Richard Thompson). Als die Kerzen aufgestellt wurden, begann jemand aufzunehmen. [die zweite Kamera, die von Chris, war oben liegengeblieben]. Das Konzert wurde von folgenden Musikern begleitet: Souleman Toure - percussion, Sasha Pushkin - background percussion, Oleg Sakmarow - voc in (7) and pipe (sometimes).

  1. Body guard
  2. Gehe dorthin, wohin dui gingst
  3. Stummfilm
  4. Stell die an den Fluss
  5. Tschkalow
  6. Die, welche ich liebe
  7. ???
  8. Steine im kalten Wasser
  9. Adelaida
  10. Vorstadt-Blues (Mike)
  11. Shooba-Dooba-Blues (Mamonow)
  12. Blumen auf dem Beet (Mamonow)
  13. "Oh, Richard Marley (?)... "
  14. Highway 21 (nur der Anfang)
  15. Wer verliebt ist
  16. Kostroma
  17. Butterfly and zebras (???)
  18. Am Morgen fiel Schnee
  19. Instrumental Souleman/ Puschkin / Sakmarow
  20. - 22. Romancen (in der Ausführung von Sakmarow)

Es war sehr angenehm, bis jemand Kerzen aufstellte. Souleman und Sasha Pushkin spielten Percussions - das gefiel nicht jedermann, aber es passte ganz gut, wovon ich mich später beim Anhören der Aufnahme überzeugen konnte. Aufgenommen wurde mit einer Videokamera, aber erst nachdem etwas Licht im Raum war. Die ersten fünf Titel waren somit verloren. Darunter auch "Walzing's for dreamers". Wie früher "parkte" Boris während des Singens seine brennende Zigarette am Ende einer Gitarrensaite, das etwas abstand. Aber die Zigaretten sind auch nicht mehr das, was sie früher einmal waren. Als er das Lied zu Ende gesungen hatte, war von der Zigarette fast nichts mehr übrig.

Die Kinder liefen herum, eine angetrunkene Deutsche torgelte vorbei, ständig klingelte ein Handy. Aber die Atmosphäre war ein vollkommen andere. Ich spürte plötzlich so eine Art Einsamkeit, ohne zu begreifen warum und woher. Boris´Gesicht war nicht zu erkennen - vielleicht deshalb? Als er aufhörte zu spielen, kam es mir so vor, als ob er nur kurze Zeit gespielt hätte. In wirklichkeit waren es an die 25 Songs! Boris stand auf und Souleman, Pushkin und Ded improvisierten. Die Kamera lief zu diesem Zeitpunkt leider nicht mehr. Ded sang noch drei Lieder und die Zuhörer liefen auseinander...

Wenigsten einmal kann man doch etwas früher schlafen gehen?! Stas stürzte sich, wie immer, in das Nachtleben, einige kehrten zurück ins Hotel und Andrej und ich, als ordentliche Deutsche, fuhren nach Hause. Den nächsten Tag mussten wir wieder hinter dem Lenkrad verbringen.

 

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