Aquarium in Deutschland, 6.-15. November 1999

Autoren: Andrej Sabelfeld und Chris Wachsmuth

 

Zweiter Tag (7.11.99), Münster

Am Mittag fuhren wir zum Hotel, um den ersten Teil Musiker abzuholen: Stas, den Oberaufseher, Oleg Gontscharow, den Verantwortlichen für guten Ton, und Alik, den neuen Schlagzeuger. Im Konzertsaal Jovel waren die Vorbereitungsarbeiten bereits im vollen Gange: das Schlagzeug bzw. die Monitoranlage wurde aufgebaut und die PA wurde verkabelt. Mit den restlichen Musikern gingen wir so lange Mittagessen, natürlich in ein italienisches Restaurant. Egal, wieviel am Vorabend getrunken worden war - "Dienst ist Dienst und Schnaps", wie wir Deutschen sagen und deshalb tranken alle nur Mineralwasser. Boris nahm sich nach dem Essen seinen Bierdeckel und entwarf das Programm für den Abend. Es wurde für die anderen beiden Konzerte auch nicht mehr geändert. Hier ist es:

  1. Der Sohn des Tischlers
  2. Mascha und der Bär
  3. Body guard
  4. Mond, beruhige mich
  5. Sternchen
  6. StopMaschina
  7. Im Namen meiner Nostalgie
  8. Solange wir auf Sake warten
  9. Joschiwara
  10. Ginever
  11. Afanasij-Nikitin-Boogie
  12. Skorbjez
  13. Drei Schwestern
  14. Zoll-Blues
  15. Steh nicht auf dem Wege
  16. Warum der Himmel nicht fällt
  17. Wenn Du nicht wärst
  18. Darja
  19. Mädchen
  20. Babylon+Aristokrat

  21. Schlüssel
  22. Kalinin
  23. Am Morgen fiel Schnee
  24. Turm
  25. Klopfen an die Türen des Gras

Ein sehr großzügiges Programm, nicht wahr? :)

Wir brachten die Musiker ins Jovel, wo die Vorbereitungsarbeiten weiter vorangeschritten waren. Bereits der Soundcheck war besser als die Konzerte manch anderer Gruppen! Karl und Gudrun relaxten auf der Tanzfläche, wie es sich gehört. Aquarium spielte nur für sie beide! Karl und Gudrun - die geistigen Eltern der Tour. Ohne ihre Liebe und Energie wäre nichts zustande gekommen. Vielen Dank, Ihr Lieben!

Während des Soundchecks erklang wieder der Richard Thompson-Song. Um vier Uhr klinkte sich Boris zeitweilig aus, um sich den Fragen der Journalisten der lokalen deutschen und der deutschlandweiten russischen Presse zu stellen. Die Pressekonferenz fand im Cafe des Jovel statt, während der Soundcheck ohne BG weiterlief. Das Interview wurde deshalb fast zur Farce. Außerdem redete Boris, wie häufig in so einer Situation, recht leise. Olga übersetzte die Fragen der russischen Journalisten für die der Sprache Unkundigen, der Pressevertreter der deutschen Zeitung unterhielt sich mit BG auf Englisch. Es ist halt besser, wenn man direkt miteinander kommunizieren kann.

Artikel im Ergebnis der Pressekonferenz, Münstersche Zeitung vom 9. 11. 1999.

Um sechs Uhr verließen wir den Saal, denn der Einlaß sollte in wenigen Augenblicken beginnen. Karl teilte uns mit, dass im Vorverkauf bereits 450 Tickets rausgegangen waren. Erfahrungsgemäß sind es an der Abendkasse noch einmal so viele - das heißt, insgesamt waren ca. 900 Besucher zu erwarten! Wir saßen nun im Backstage und warteten. Ein warmes Abendessen wurde gereicht - Gontschik, Stas und Alik hatten schließlich nicht zu Mittag gegessen.

Eine lustige Geschichte am Rande: Goga schrieb die Titelliste von Boris ab. "Am Morgen fiel Schnee" ("S utra schol sneg") schrieb er einfach nur "S utra" auf, und als einer der anderen Musiker sich die Liste von Goga abschrieb, wäre daraus fast "Sutra" geworden, d.h. "Sutra Ledoruba". :) Versucht euch vorzustellen, wie das geklungen hätte, wenn die eine Hälfte der Gruppe "Sutra" gespielt hätte, die andere Hälfte dagegen "S utra shol sneg" :)

Ungefähr zu dieser Zeit reiste Hajo aus Kiel an (zur Erinnerung: 1992 chauffierte er Boris durch Kreuzberg und vor drei Jahren initiierte er das Aquarium-Konzert in Hamburg - er ist der größte Aquarium-Fan unter den Westdeutschen!).

Es wurde beschlossen, nicht zu beginnen, solange vor dem Eingang noch Leute drängten. Um zwanzig nach sieben kam die Band unerwartet auf die Bühne und begann zu spielen.

Das erste Konzert

Wir kommen nun zum eigentlichen Konzert. Das die hiermit verbundenen Eindrücke sehr subjektiv sind, verlassen wir den einheitlichen Berichtsfluss. Zuerst bekommt Chris das Wort erteilt, danach Alexander Sajzew, der extra aus Aachen angereist war, anschließend Andrej und zum Schluss Machno, der von irgendwo weit her nach Münster im Kleinbus angereist war.

Chris
Von den ersten neun Titel stammen acht aus dem neuen Album. Nur "Sternchen" war dem Publikum bereits bekannt. Die neuen Songs waren dynamischer als die Studioversion. Das ist nun mal der Vorteil eines Konzerts. Dazu kommt, dass die Lieder bei Aquarium, wie ja bekannt ist, ihr Eigenleben entwickeln. Davon konnte man sich im zweiten Teil des Konzerts überzeugen, als bereits bekannte Titel gespielt wurden. Die Titel waren zwar bekannt, aber die Arrangements waren teilweise unerwartet. Das ist, meines Erachtens, in erster Linie Boris Rubekin zu verdanken, der stellenweise auf seinem Keyboard Lead-Gitarre spielte!
Vieles aus "Lilith" war dabei" - "Darja", "Kalinin", "Mein Freund der Doktor" (der einzige Titel, der mir nicht gefallen hat - er kam am Vorabend bei der Flat session überzeugender herüber und ich begriff, dass er für Konzertsäle nicht geeignet ist!) und - "Wenn Du nicht wärst". Das Intro des Liedes wurde so verändert, dass ich nicht nur Mühe hatte es zu erkennen, es fiel mir auch schwer Aquarium selbst zu erkennen! Einen zweiten solchen Eindruck erzeugte bei mir "Mädchen". Teilweise ist das natürlich dem Gras zu verdanken, das man mir angeboten hatte, aber auch ohne war die Wirkung des Songs, wie ich auf den anderen beiden Konzerten begriff, beachtlich. Der Glockenklang, den Ded mit seinem Zauberkasten erzeugte (was war das übrigens für ein Instrument???), erinnerte mich an den Klang von Kirchenglocken in einem bayrischen Städtchen zur Weihnachtszeit...
Herausragen war auch der Titel "Afanasij-Nikitin-Boogie" - es war sehr lange her, dass Boris ohne Gitarre gesungen hat. Er streifte sie sich gegen Ende des Titels wieder über, doch seine Hände waren frei und er begleitete den Song nicht nur mimisch, sondern auch mit einer hervorragenden Gestik. Es wurden ein paar Zettelchen mit Liedwünschen zur Bühne gereicht. Die meisten Zuschauer haben den Gag wohl gar nicht mitbekommen: anstatt den Liedwunsch vorzulesen, zitierte Boris Haikus (zwei Stück)!
Vor dem Konzert hatte ich die Titelliste kurz gesehen und wusste somit, was zu erwarten war: nach dem offiziellen Teil kamen noch fünf Zugaben. Deshalb wettete ich siegesgewiss mit Christiane. "Die werden bestimmt auch "Gorod" spielen", sagte sie. "Das werden sie nicht", wusste ich! Zum Teufel mit der Titelliste - nach der dritten Zugabe erklang "Eine Minute auf den Weg". Es war nun klar, dass BG beschlossen hatte, das Programm operativ auszudehnen. Die Wertinskij-Titel konnte er nämlich auch alleine spielen. (Meine Stimmung änderte sich schlagartig - dieses Lied fasste ich immer als Suizid-Song auf. Boris erklärte mir später, dass er das Lied vollkommen anders auffasse, aber auf den weiteren Konzerten spielte er aus unerklärlichen Gründen nie wieder Wertinskij). Danach folgte "China". Und danach... "Gorod"! Ach, wem kann man heutzutage noch glauben!? Mit "Klopfen an die Türen des Gras" (dem letzten Lied in der Liste) ging das Konzert auch wirklich zu Ende.
Alexander Sajzew
...Von Aachen nach Münster fuhren wir fast ohne Zwischenfälle in 2,5 Stunden (wir - das heißt ich und Ilfak, der in Lege arbeitet). Bis vor Dortmund regnete es, stellenweise war sogar dichter Nebel, aber kurz vor Münster klärte der Himmel fast vollkommen auf und wir konnten sogar den Sonnenuntergang geniesen. Wir fanden in der Stadt recht schnell die Stelle, an der wir uns mit Andrej Sabelfeld verabredet hatten, trafen ihn aus unerfindlichen Gründen aber nicht. [Wir hatten zwei Zeiten ausgemacht, um drei und um fünf - ich war dort um drei und Sascha um fünf.:( ]
Unsere schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten sich: Auf dem Stadtplan von Münster war die Jovel Music Hall nicht vermerkt und auf der Homepage hatte man vergessen, die Information zu geben. Schnell ins Zentrum - dort waren bestimmt Leute, die des Englischen kundig waren (wir sprechen natürlich kein Deutsch) und wissen, wo sich das Jovel befindet. Aber es waren keine Leute zu finden. Zum Glück war in der erst besten Zeitung, die Ilfak unterwegs aus einem Briefkasten zog, eine Annonce, in der unser Konzert angekündigt war und dazu die notwendige Adresse. Hurra! Um 17:45 waren am Eingang bereits ca. 100 Leute. Wo waren wir hier?! Sie sprachen alle Russisch! Obwohl sich einige aus Gewohnheit auch auf Deutsch entschuldigten. Die Menschenmenge wurde immer größer und größer. Hinter der Mauer ist die Probe zu hören...
Um ca. 18:20 wurden die Besucher eingelassen. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich am Eingang bereits mindestens 300 Leute versammelt. Das bekannte Gefühl der Menge. Wir sind drinnen. Das ist wirkliche eine Music Hall. Bühne, Licht, Akustik, Mischpult in der Saalmitte. Mehrere Bars. Wir suchen uns einen Platz etwas weiter oben, um die Bühne besser sehen zu können. Etwas weit, aber dafür ist der Klang wahrscheinlich besser. Ab sieben Uhr fordert das Publikum periodisch, dass die Musiker erscheinen mögen. Im Saal sind ca. 1000 Leute, vielleicht sogar mehr. Um 19:15 Uhr erscheint auf der Bühne der Vertreter der Russisch-Deutschen Gesellschaft und erklärt in einem für mein Moskauer Ohr nicht idealen Russisch, dass das Konzert in einer halben Stunde beginnt. Aquarium betritt die Bühne nach etwa zehn Minuten...
Das Konzert. Ich beneide euch Emigranten, wenn alle BG-Konzerte im Ausland SO sind! Es wurden sowohl Lieder vom neuen Album, als auch Sachen, mit denen BG ständig experimentiert und vieles Andere. Unter den für diese Tour außergewöhnlichen Titeln: "Sternchen", "Warum der Himmel nicht fällt", "Zoll-Blues", "Wenn Du nicht wärst!" (das Arrangement hat mir nicht gefallen), "Darja, Darja", noch ein Lied, das mir nicht gefallen hat (!?). "Afanasij Nikitin" klang sehr stark. Noch härter, als gewöhnlich, - "Skorbjez". Nachdem sie etwas länger als eine Stunde gespielt hatten, verließen die Musiker die Bühne. Nach einer Anstandspause von zwei Minuten betraten sie erneut die Bühne. Noch ein Titel, noch einer ... und noch einer. Ein richtiger zweiter Teil. Mit jedem Lied sing BG besser und besser! Was davon in Erinnerung geblieben ist: "Aus Kalinin nach Twer", "Mein Freund, der Doktor" (ach so wird der Song also gespielt...), zwei Wertinskij-Songs (ideal intoniert!), "Gorod" (der Saal ist in Ekstase), das übliche "Babylon", "Mädchen" mit einem nicht gerade trivialen Intro von Sakmarow (wahrhaft Eno-gemäß) und Feenbeleuchtung...
Nach jedem neuen Titel denke ich mit Herzklopfen: war das jetzt das letzte Lied? Und triumphal und mächtig erklingt zum Abschluss "Klopfen an die Türen des Gras"... Es ist alles gesagt. Die Musiker verlassen die Bühne. Ich schaue auf die Uhr - Aquarium hat über zwei Stunden gespielt, fast ohne Pause, in einem Atemzug... Draußen leuchten die Sterne. Wir setzen uns ins Auto und fahren los. Nach einer halben Stunde fängt es erneut zu regnen an...
Andrej
Ich bin vollkommen mit Chris und Sascha einverstanden und möchte lediglich hinzufügen, dass ca. 1000 Besucher im Saal waren. Dank der intensiven Promotion von Gudrun und Karl wurde das Konzert in Münster das bestbesuchte Konzert dieser Tour. Das Konzert dauerte 2,5 Stunden(!). Es sei hinzugefügt, dass die Architektur des Saals eine nicht unwichtige Rolle spielte. Im vorderen Teil war Platz zum Tanzen, hinten und an den Seiten gab es eine Vielzahl Sitzplätze, sowie mehrere Bars. Wie kann man ruhig bleiben, wenn alle um dich herum tanzen? :)
Dieses Konzert war wirklich etwas Besonderes. Der Grund dafür war die Energie, und Aquarium klang vollkommen neu. "Sohn des Tischlers" war ein optimaler Einstieg, der Appetit auf die neuen Songs machte. "Mond, beruhige mich" und "Der Name meiner Nostalgie" schufen eine bestimmte Stimmung: "über den Worten, über den Sternen, gleichauf mit unserer Nostalgie...", aber nicht die Art "unmittelbarer" Nostalgie, die wir aus "Navigator kennen, sondern eine lichte. "Mascha und der Bär" - ist ein neues Schmuckstück, das Boris vor einem Jahr irgendwo in Pensa oder Wjatka aufgestöbert hat. Im "Body guard" steckt ein Feeling, das einen mit sich reißt, Aquarium hinterher - "dorthin, wohin ich gehe, begleitet mich keiner", unter dem rhythmischen Schlag der Gitarre steckt ein ruhiges, aber selbstbewusstes Keyboard-Solo. "StopMaschina" - ist ein urtypisches Aquarium-Lied, das frisch klingt und niemanden ruhig auf seinem Platz stehen lässt. Boris sang in den Konzerten "skip it, fuck it, delete it", im Unterschied zur Albumversion, worüber sich das Publikum natürlich wahnsinnig freute. :) Wenn euch "Der blaue Hausmeister" gefällt (wie mir), so hat euch bestimmt "Solange wir auf Sake warten" beeindruckt. "Gorod" sang - halblaut, um Boris nicht zu übertönen - der gesamte Saal. "Afanasij-Nikitin-Boogie" versetzte das Publikum in Ekstase durch seinen Sound, die Darstellung durch Boris und seiner letzten Zeile "Wir Russen brauchen im Ausland keine Ausländer!". Ha-Ha. Schade nur, dass weder "Afanasij-Nikitin-Boogie", noch "Turm" bisher noch in kein Album aufgenommen worden sind. Es wäre an der Zeit!
Machno
Ich schreibe am nächsten Morgen nah dem Konzert in Münster mit noch frischen Erinnerungen (wer nicht zwischen den Zeilen lesen kann: mit schwerem Kopf). Hinter mir liegt ein langer Weg nach Hause, ein kurzer Schlaf von zwei bis sechs, die Reinigung des von mir gemieteten Kleinbusses - Igor, lege nie wieder deine Füße auf das Armaturenbrett, wenn diese in schmutzigen Stiefeln stecken, sonst machst du das nächste Mal selber sauber - und ein tolles, ich würde sagen, lang erwartetes Konzert. Die Kalorienmenge, die mein Körper im Laufe dieser zwei Stunden verlor, läßt sich nicht berechnen. Wenn mich - den halbnackten Typen irgendwo vorne - jemand gesehen hat, dann weiß er, worüber ich spreche. Ich bitte die Unglücksraben, die unter meinem ungeschickten Tanzen zu leiden hatten, um Verzeihung - ich habe getan, was ich konnte, damit niemand umfällt. Meine Haare wurden von ein paar Konzertbesuchern, die ihre Hände im Takt schwangen, herausgerissen. Eigentlich schade - die Haare waren frisch gewaschen. So mussten also alle etwas leiden.
Bob reiste mit einer neuen Mannschaft an, an bekannten Gesichtern waren da nur der Gutaussehende Sakmarow und der Himmlisch Höfliche Surodtinow. Das Gesicht des Bassisten kam mir irgendwie bekannt vor, meine Vermutung bewahrheitete sich nach dem Konzert im Gespräch mit dem Himmlisch Höflichen Surodtinow - der Bassist stammt von "Nautilus". Wie mir später der Gutaussehende Sakmarow erklärte, war dies das insgesamt dritte Konzert in der neuen (und vielleicht nur vorübergehenden?) Besetzung. Was die Besetzung betrifft: meines Erachtens fehlt ein Lead-Instrument - weder eine Gitarre (wo, zum Teufel, war Subarew?), noch Schurakows Akkordeon. Ansonsten, wie wir es gewohnt sind, solide, nicht überladene Arrangements, sauber gespielt. Der Sound war besser als 1996 an gleicher Stelle, ich habe den Text sogar verstehen können. Was mich interessiert - wurden denn irgendwelche Titel improvisiert oder war alles von Anfang bis zum Ende so geplant? He, Aquarium, antworte doch! Wahrscheinlich war nur Wertinskij nicht geplant gewesen. Übrigens, Swjagin sr.: im Lied "China" heißt es "... mit eingezogenen Füßchen" und nicht "... mit eingezogenen Pfötchen" und ich wiederhole - lege nie wieder deine in schmutzigen Stiefeln steckende Füße auf das Armaturenbrett, sonst machst du das nächste Mal selber sauber! Und außerdem singst du, mein Freund, auch nicht besonders gut. Aber immer noch besser, als ich.
Apropos singen - das neue Programm hieß "StopMaschina", die neuen Songs waren aus dem Album "Psi". Eigentlich gibt es das Album noch gar nicht, wie mir der Gutaussehende Sakmarow erzählte - das Album ist bereits aufgenommen, die CD aber noch nicht herausgegeben. Die Lieder wurden vom Saal mit Begeisterung aufgenommen, obwohl man den Text nicht sonderlich gut verstehen konnte. Die Leute kannten die Songs zum Großteil nicht, meine Kenntnisse beschränkten sich ein paar Sachen aus "Beten und Fasten" . Im Großen und Ganzen - das Album scheint sehr stark zu sein und wird mir wahrscheinlich besser als "Lilith" gefallen (mein Favorit in der letzten Zeit), obwohl - kann man diese Alben überhaupt vergleichen?
Bob verhielt sich recht zurückhaltend, vielleicht war er von der Reise noch erschöpft, obwohl es eigentlich ausreichend war - wir hatten unseren Spaß und schrien, wie die Verrückten. Ich schreibe diesen Text auf Arbeit, laufend kommen irgendwelche Leute vorbei und lenken mich mit ihrem deutschen Gerede ab, stören mich dabei, diese Zeilen zu zimmern. Dabei hält mich dieser blöde 486er, mit dem bis zum Mittag ich zu arbeiten gezwungen bin, schon genug auf. Also, wenn Bob noch mehr aus sich herausgekommen wäre, hätte meine Frau wohl der Schlag getroffen, und Manjewitsch hätte in seinem betrunkenen Zustand noch mehr Wörter missvertanden. Aber immerhin hat er nicht vergessen, allen "Guten Tage" zu sagen. Der Gutaussehende Sakmarow lächelte in den Saal, wie immer, stand er kaum bemerkbar in der Ecke, Boris - der Keyboarder - spielte mit sichtlichem Vergnügen Boris´ Lieder, Bob selbst rauchte während "Afanasij-Nikitin-Boogie" demonstrativ ein einen Joint darstellende Zigarette, die Massen nickten verstehend, es war viel Licht und Rauch, das von mir besorgte und von meiner Frau unvorsichtigerweise auf den Bühnenrand gestellte Bier wurde von irgend jemanden ausgetrunken, Boris sang aus unerfindlichen Gründen "Gorod solotoj" - das aquariumistischste aller nichtaquariumistischen Lieder, es roch nach einem Sampler "Greatest Hits", ein Mädchen mit verzerrtem Gesicht verbrannte mit ihrer Zigarette meinen entblößten Körper, wir sangen mit, so gut wir konnten. Plötzlich war alles zu Ende, ich konnte gar nicht verstehen, warum alle von der Bühne verschwanden, die Leute schrien - Aquarium kehrte zurück, sang noch ein paar Lieder und verschwanden endgültig. Die Jungs und Mädels dachten sich, wenn sie nur genügend schrien, so kämen noch ein paar Zugaben und so gaben sie sich dieser Sache mit Euphorie, ja fast schon mit Hysterie hin. Es war sehr laut, ehrlich! Doch es kamen ein paar eifrige Typen auf die Bühne, die anfingen, die Mikros abzubauen - ich konnte meinen Augen nicht glauben!
Danach ging es auf die übliche Art weiter - mit einem Kopf voller Portwein (das ist äußerst gesund) machten wir uns auf den Weg nach Autogrammen. Warum ich das mache, weiß ich selber nicht, aber ich mache das, glaube ich, immer. Um Boris drängte sich eine Menschenmenge, manche davon wollten sich mit ihm fotografieren lassen, jeder fragte "Wann kommt ihr denn das nächste Mal?" Boris antworte höflich: "Wenn ihr uns einladet." Und so ging das zweihundert Mal. Er malte die Buchstaben "B" und "G" auf mein grandioses Kunstwerk "Die Fritzen frieren vor Moskau", wen es interessiert - schreibt mir. Der Himmlisch Höfliche Surodtinow beantwortete Fragen bezüglich seiner Heimat Semipalatinsk, erzählte jedem, dass er ihn von der Bühne aus gesehen habe; das gleiche behauptete auch der Mann mit dem ehrlichen Blick, der Gutaussehende Sakmarow, der übrigens vorschlug, danach noch ein wenig beisammen zu sitzen. Keine schlechte Idee, doch am nächsten Tag wartete die Arbeit. Der Abend war wahrhaft gelungen! Igor, lege nie wieder deine in schmutzigen Stiefeln steckende Füße auf das Armaturenbrett, sonst machst du das nächste Mal selber sauber!

Nach dem Konzert

Die Band verließ die Bühne und im Backstage herrschte eine glückliche Atmosphäre - das Konzert war mehr als nur gelungen. Chris sagte, es war so ein geiles Gefühl, dass er sich nicht vorstellen kann, jemals ein noch schöneres Konzert zu erleben. Und wirklich, von der Dynamik her und der Beredtheit, die man spüren konnte, habe ich in meinem Leben kein vergleichbares Konzert erlebt.

Ungefähr zwanzig Minuten nach dem Konzert kam Boris heraus und widmete sich den Fans: er gab Autogramme, ließ sich mit ihnen fotografieren... Stas wurde nervös - in Erwartung einer riesigen Fangemeinde vor dem Eingang beschloss er, alle durch den Hintereingang hinauszuschleusen. Doch als wir um das Gebäude herumgelaufen waren, war bereits niemand mehr da. Die Geduld hat wohl nicht gereicht.

Um halb zwölf herum gingen wir dann Abendessen, natürlich zum Italiener. Es hatte sich eine ganz schön große Gruppe gebildet - Band, Organisatoren und Groupies :), insgesamt an die 25 Personen. Zum Einstieg wurde dreifacher Grappa bestellt. ein "dreifacher", das sind 60 Gramm! Das Abendessen verlief recht lustig - Boris hatte gute Laune und erzählte eine Unmenge Geschichten aus seinem Leben (und nicht nur aus seinem), so dass unsere Tischhälfte ständig am Lachen war.

Auf dem Weg ins Hotel wollten sich Alik und Goga noch an der Tankstelle eindecken (Münster ist schließlich nicht St. Petersburg - Geschäfte, die rund um die Uhr geöffnet haben, gibt es hier nicht, so dass in so einer Situation nur der Weg zur Tankstelle bleibt!). Alik beklagte sich, dass man in dieser Stadt nirgends Tomatensaft auftreiben könne. Aber auch hier hatte er kein Glück. Christiane erinnerte sich daran, dass Olga bestimmt noch im Hotel bei den Jungs ist und beschloß, eine Flasche Sekt zu kaufen.

Während Chris und Christiane Alik und Goga zur Tankstelle kutschierten, war der Rest auf dem Weg zu BGs Hotelzimmer. Auch ich in Begleitung von Ded und Olga waren dabei. Boris saß auf dem Bett und hatte, natürlich, die Gitarre bereits in der Hand! Sur, Gontschik und der Band nahestehendes Publikum waren bereits dort. Wir hatten uns kaum etwas umgesehen, als Boris auch schon das Licht löschte. Wir mussten uns also durch Tasten orientieren, und Boris hatte bereits begonnen zu singen.

"Nur in der Finsternis ist Licht", 8.11.99, Coerdehof Hotel, Münster

Ich hatte nicht solchen Effekt vom Spiel im Dunkeln erwartet - es war für alle viel angenehmer. Die Hörer konnten sich auf die Musik und ihre Gedanken konzentrieren und Boris auf sein Spiel, ohne befürchten zu müssen, dass irgend jemand den anderen beobachtet. Er sang noch durchdringender als am Vorabend und nun drangen seine Worte auch vollkommen unverzerrt an das Ohr der Zuhörer. Der Sekt und andere bewußtseinserweiternde Sachen machten die Runde.

An dieser Stelle kam Christoph hinzu: Ich war schon so müde, dass es mir bereits alle egal war - so konnte ich also auch noch mit ins Hotel kommen. Goga und Alik gingen in ihr Zimmer. Und aus Boris´ Zimmer erklang noch Musik. Wir traten ein und es war ... finster. Nichts war zu sehen. Unklar, wieviele Leute dort herumsaßen. Nur durch den Gesang konnte man erkennen, dass Boris auf dem Bett saß. Christiane und ich fanden noch eine freie Ecke und lauschten der Musik. Der Großteil der Songs war in Englisch. BG sang bis ca. um zwei.

Das "Konzert" (wenn man es so nennen kann) endete ziemlich unerwartet - Boris fiel in sein Bett (er hatte schließlich zwei Konzerte nacheinander gegeben!) und die Leute verließen das Zimmer. Weder Audio- noch Videoaufzeichnungen (dazu war es zu dunkel) gibt es von diesem Konzert, aber dieser Abend bleibt ewig als leuchtendes Ereignis in unseren Erinnerungen.

 

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